„Ein Gerechter unter den Völkern“

Hans Calmeyer in seiner Zeit (1903 – 1972)

 

„In der Zeit von 1934 bis zum 9. Mai 1945 [galt] der barbarische, unsinnige Gedanke, daß ein Menschenleben gegenüber Führerbefehl oder einem Führerwunsch höchst gleichgültig sei. Nach dem 9. Mai 1945 war schlagartig diese Auffassung von der Ungeziefervertilgung nicht mehr da.“

Hans Calmeyer 1963 vor niederländischen Behörden

 

Anfang März 1941 – ein Jurist namens Hans Calmeyer beginnt beim Reichskommissariat in Den Haag seine Tätigkeit als „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter“ in der Abteilung „Innere Verwaltung“. Seit dem 10. Januar 1941 müssen sich niederländische Juden registrieren lassen – und sie melden sich pflichtbewußt – ohne zu ahnen, was diese Meldung später für sie bedeuten wird. Calmeyer ist ein Verwaltungsjurist beim Reichskommissar. Das kleine Rad in der Verwaltungsmaschinerie beginnt sich nach kurzer Zeit nicht mehr nach Vorschrift zu drehen: Anordnungen und Forderungen für die niederländische Bevölkerung werden abgemildert oder abgeschwächt. Dem taktisch geschickten Calmeyer gelingt es sogar, die Ausführung von Repressionsbestimmungen zu verschleppen oder sogar zu verhindern. Eines Tages wird diese Abteilung mit der Aufgabe betraut, über Zweifelsfälle hinsichtlich der Anmeldepflicht von Juden und Mischlingen zu entscheiden. Calmeyer wird Referent der sogenannten „Entscheidungsstelle für Zweifelfragen der Abstammung“ – es gibt eine „Dienststelle Calmeyer“. Die „Nürnberger Rassegesetze“ von 1935 gelten auch in den besetzten Gebieten. Die Frage nach dem Grad des Anteils an „jüdischem Erbgut“ kann in diesen Tagen über Freiheit, Verfolgung und Ermordung entscheiden. Calmeyer entdeckt seine Chance: Juden wird nahegelegt, vor einer „rassischen Klassifizierung“ ihre Unterlagen verloren zu haben. Selbst mündliche Abstammungsurkunden werden akzeptiert. Der Jurist Calmeyer gibt deutlich zu erkennen, daß er bereit ist, alle möglichen „arischen Vorfahren“ anzuerkennen – mag der Nachweis dafür auch noch so zweifelhaft sein. Um die deutsche gründliche Verwaltungsmaschinerie zufrieden zu stellen, akzeptieren Calmeyer und seine Mitarbeiter Abstammungsnachweise aller Art – erwecken sie auch nur den Anschein, echt zu sein. Zu Calmeyers Rettungswerk gehören eine Reihe von niederländischen Juristen, Pastoren, Ärzten, Standesbeamten und Bürgermeistern, die verschwiegene Teile der „Fälscherfabrik“ von historischen Dokumenten werden. Über Nacht sind eine Reihe der Vorfahren von „Calmeyer-Juden“ schon im 19. Jahrhundert zum Christentum übergetreten. Ihre Nachkommen gelten so nicht mehr als „Volljuden“ nach den „Nürnberger Rassegesetzen“. Eine Vielzahl von Antragstellern kann Calmeyer aufgrund dieser „Unterlagen“ sofort „entlasten“ – ihm gelingt zudem, die Bearbeitung einer Reihe von Zweifelsfällen bewußt zu verschleppen, um Zeit gegen den kollektiven Rassenwahn zu gewinnen.

 

Calmeyers Treiben kann nicht lange gut gehen: Hohen SS- und Polizeiführern fällt auf, daß ausgerechnet bei Calmeyer vermehrt Juden nicht unter die „Nürnberger Rassegesetze“ fallen. In internen Schreiben und vertraulichen Gesprächen nennen sie ihn „Beschützer aller Juden“ und sogar „Saboteur der Judengesetzgebung“. Die Gestapo fordert, die Beurteilung von jüdischen Abstammungsfällen selbst in die Hand zu nehmen. Calmeyer zeigt Rückgrat – er verfährt so wie bisher, obwohl er selbst in das Fadenkreuz des Verfolgungs- und Vernichtungsapparates gerät.

 

Doch auch Calmeyer gerät in ein menschliches Dilemma: Wenn er allen Antragstellern arische Eltern und Vorfahren verschafft, fliegt sein konspirativer Fälscherring auf. Mit der Sprache der Nazijustiz muß er ohnehin operieren – die Umstände erfordern es, daß er ab und an auch eine jüdische Abkunft attestieren muß. Eine Belastung seines Gewissens, die ihn den Rest seines Lebens verfolgen wird. Der Taktiker muß Mitschuld auf sich laden, um viele Menschen retten zu können.

 

Calmeyers Ahnennachweise retteten 2866 namentlich bekannte Juden vor der Deportation in die Internierungs- und Vernichtungslager. Nimmt man die Familien und Großsippen dazu, beläuft sich die Zahl der Geretteten sogar auf etwa 17.000 Menschen. Die Geschichte von Calmeyer ist ein bisher weitgehend unbekanntes Kapitel in der Chronik der Judenrettung im 2. Weltkrieg.

 

Calmeyer stammt aus der westfälischen Provinz. 1903 wird er in Osnabrück als Sohn eines Richters geboren. Er studiert Jura und interessiert sich für Kunstgeschichte und Geographie. In München lernt er den Sozialismus kennen und findet Aufnahme in einer Kompanie der Schwarzen Reichswehr. 1932 wird er in seiner Heimatstadt Osnabrück freier Rechtsanwalt und gilt bei den Nazis als „Salonbolschewist“. Zeitweise wird ihm die Berufserlaubnis entzogen – er bleibt unter Beobachtung der Gestapo. Ab Mai 1940 ist er Soldat in einer Luftnachrichtenkompanie in den Niederlanden.

 

Nach dem Ende des Krieges versucht Calmeyer, erneut in Osnabrück Fuß zu fassen: Er wird wieder Anwalt – bald auch Notar. Daneben entwickelt er ein starkes kulturelles Engagement in seiner Stadt. Aus Bescheidenheit verschweigt er seine eigenen Taten – ja, er macht sich sogar Vorwürfe, viel zu wenig getan zu haben. Anfang der sechziger Jahre stoßen Journalisten auf sein Schicksal. Es gibt Rundfunk- und Fernsehberichte, die jedoch nicht das gebührende Echo haben. Von der nationalsozialistischen Vergangenheit will man im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik in den sechziger Jahren nichts mehr hören. Ein „Judenretter“ Calmeyer ist ein störendes Glied in einer Nachkriegsgesellschaft mit flüchtigem Gedächtnis. Noch 1965 schreibt er deprimiert in einem Brief: „Verzweifelt sein, verzweifelt bleiben, das ist die einzige und wertvolle Haltung, die wir gegenüber dem Geschehen und bei der Versuchung, das Geschehen zu beurteilen, einnehmen müssen.“ Calmeyer zieht sich aus der Gesellschaft in sich selbst zurück und beschäftigt sich intensiv mit der Welt des Geistes, der Literatur und mystischer Verklärungen. Seine letzten Lebensjahre sind zunehmend von Depressionen und esoterischem Eskapismus geprägt. 1972 stirbt er.

 

Erst spät wird er wiederentdeckt: Ab 1988 wird seine Geschichte erforscht; 1992 wird er von Yad Vashem als „Gerechter der Völker“ geehrt; 1995 wird ihm posthum die höchste Auszeichnung seiner Heimatstadt Osnabrück, die Mösermedaille, verliehen.

 

Joachim Castan